Blut tropfte auf den sandigen Boden. Sein schwerer Atem stob den Dreck  vor sich in alle Richtungen und er hatte alle Mühe damit, noch scharf  sehen zu können. Der letzte Schlag hatte gesessen! Trotzdem rappelte  Thorvid sich auf und spuckte auf den Boden. „Da wurde ich von meiner  Mutter schwerer verprügelt …“, nuschelte er, während er spürte, wie  seine Oberlippe anschwoll.
„Der yveihische Prinz hält ganz schön was aus“, meinte einer der  Rekruten, die Thorvid zeigen wollten, wohin ein Adliger seiner Art  gehörte.
Thorvid war der erste Nordmann, der sich auf die Insel Calera begeben  hatte, um ein Ritter zu werden und nichts in dieser Welt würde ihn davon  abhalten, sein Ziel zu erreichen. Selbst dann nicht, wenn ein paar  andere Rekruten versuchten, ihm das blaue Blut aus den Adern zu prügeln.
Auch wenn er es gerne anders gesehen hätte … Er war nicht ganz  unschuldig an dieser Auseinandersetzung. Es gab Momente, in denen es  wohl besser war, seinen Mund zu halten.
Ulrik, ein Rekrut in Thorvids Alter, würde sicherlich zu einem  Vollstrecker werden. Seine Größe und Muskelkraft sowie seine stoische  Art, Schmerzen zu ertragen, sprachen dafür. Aber es war vielleicht  falsch gewesen, ihm zu unterstellen, dass ihm für alles andere auch der  Scharfsinn fehlte – selbst wenn es stimmte. Ulrik fehlte anscheinend  ebenso die nötige Toleranzgrenze, solch einen Kommentar zu überhören.
Thorvid atmete tief aus. Er war seit drei Tagen auf der Insel und noch  war er nicht getestet worden, ob er in den Reihen der Ritter aufgenommen  werden würde. Man hatte ihm ein Zimmer gegeben, in dem er mit anderen  Rekruten schlafen musste. Das war ihm fremd. Im Schloss von Yveih hatte  er stets seine eigenen Gemächer besessen. Jetzt schlief er inmitten  anderer junger Männer. In diesem Zimmer stank es erbärmlich, und das  kleine Fenster reichte kaum aus, es ordentlich zu belüften. Ulrik  schnarchte und Robert, ein anderer Rekrut, schrie manchmal nachts oder  wanderte stundenlang durch die finsteren Straßen Caleras. Durch die  alten Holztüren der Kaserne weckte er alle bei seiner Rückkehr.
Thorvid schloss seine Augen und atmete noch einmal tief ein und aus. In  diesem Moment stürmte Ulrik erneut auf ihn zu und riss Thorvid um. Auf  ihn sitzend, schlug Ulrik mehrfach auf ihn ein und … Thorvid öffnete  seine Augen und sah Ulrik noch vor sich stehen, als sei nichts  geschehen. Seine Vorahnungen halfen ihm stets, zu wissen, was als  Nächstes passieren würde. Ein Talent, das ihm seit seiner Geburt  begleitete und für das er den Göttern dankbar war.
Als Ulrik sich tatsächlich angriffslustig auf ihn zu bewegte, wand sich  Thorvid blitzschnell an dessen massigen Körper vorbei, trat ihm in die  Kniekehle, sodass Ulrik vor ihm hinfiel und er nahm ihn dann in den  Schwitzkasten. „Du bist nicht der erste Hüne, gegen den ich kämpfe“,  meinte Thorvid, dessen ältere Brüder auch allesamt größer waren als er.
Ulrik spannte seine Nackenmuskeln an, lachte leise und erhob sich einfach.
Mit großen Augen wurde Thorvid hochgehoben, da er sich weiterhin am Hals  des Rekruten festhielt. Er spürte, wie seine Füße in der Luft  baumelten, während der Rest der Gruppe, die den Kampf beobachten, in  lautem Gelächter ausbrachen. „Einigen wir uns auf ein Unentschieden?“,  fragte Thorvid, während Ulrik hinter sich fasste und ihn über sich warf.  Staub und Dreck wurden durch den Sturz aufgewirbelt, sodass der Prinz  kaum etwas sehen konnte. Er befürchtete in diesem Moment das Schlimmste.  Einen Stiefel, der auf ihn zukam oder eine Faust, die sich durch den  schmutzigen Nebel bohrte … aber nichts geschah.
Erst nachdem sich der Dunst gelegt hatte, erkannte Thorvid, warum Ulrik  innehielt. Ein Paladin des goldenen Banners stand neben der Gruppe; er  musterte alle Anwesenden. „Was genau ist hier los?“, wollte Sir Richard  von Seeheim wissen und zupfte abwartend an seinem weißen Schnauzbart.
„Der neue Rekrut unterstellte Ulrik, er sei etwas … minderbemittelt“,  sagte einer aus der herumstehenden Gruppe, und Thorvid rappelte sich  auf.
„Das stimmt nicht ganz“, dementierte Thorvid den Vorwurf.  „Minderbemittelt ist er bei weitem nicht. Immerhin hebt er andere hoch,  als seien sie ein Sack Federn.“
„Und was ist dann die Wahrheit?“, wollte der Paladin wissen und  verschränkte erwartungsvoll seine Arme vor sich, die damit seinen  leichten Bauchansatz kaschierten.
„Als die Gruppe meinte, Ulrik würde sicherlich ein Vollstrecker werden,  dem ich absolut zustimme, meinte ich lediglich, dass es zu einem  Beschützer und Bewahrer auch etwas mehr Scharfsinn braucht.“
Bei der Wiederholung seiner Worte machte Ulrik erneut einen Schritt auf  Thorvid zu, aber der Hüne wurde vom rechten Arm des Paladins davon  abgehalten, noch einmal auf den Prinzen einzuschlagen.
„Euer Scharfsinn ist dann aber auch nicht sehr ausgeprägt, wenn Ihr dies  in der Nähe eines Mannes wie ihm sagt“, ergänzte Sir Richard und  grinste verschlagen in die Gruppe. Diese begann erneut zu lachen, und  Thorvid wischte sich mit dem Ärmel seines beigen Gewands das Blut aus  dem Gesicht. Wobei er es vermutlich nur noch mehr verteilte, anstatt es  zu beseitigen.
Der Prinz sah auf und musste einsehen, dass das wohl eine passende  Lektion gewesen war. „Dem stimme ich zu“, antwortete Thorvid und sah  Ulrik an. „Ich möchte mich bei Euch entschuldigen“, fuhr er dann fort,  woraufhin Ulrik ihn erstaunt ansah. „Es stand mir nicht zu, Eure  Intelligenz infrage zu stellen.“
Thorvid musste sich ins Gedächtnis rufen, dass er nicht da war, um Ärger  zu machen. Er war beim Orden, um nach Unterstützung zu suchen. Während  er sich prügelte, war seine Schwester irgendwo in Mittland unterwegs und  musste ein Leben fristen, das niemals einer Prinzessin gerecht werden  würde. Vielleicht war es auch die Sorge um sie, die ihm den Schlaf stahl  … Sie war erst fünfzehn und weitestgehend schutzlos dem einfachen Leben  ausgesetzt. Er hatte ihr zur Flucht verholfen, damit sie Heinrich von  Kosse nicht heiraten musste, der seine letzte Frau auf dem Schafott  hatte enthaupten lassen. Eine junge Frau, die das warme Bett einer Wache  dem des älteren Herzogs vorgezogen hatte.
Thorvid musste so schnell es ging wieder nach Mittland und die Fährte  seiner Schwester aufnehmen. Er musste wissen, ob es ihr gutging. Er  durfte seine Zeit nicht verschwenden!
„Wie lange genau muss ich warten, bis mich jemand testet?“, wechselte  der Prinz daher das Thema und sah den Paladin herausfordernd an.
„Oh, wenn Ihr wollt, prüfe ich Euch sofort. Aber da ich nicht annehme,  dass Ihr hier seid, um den Bauern des Ordens als Knecht zu dienen, würde  ich an Eurer Stelle warten, bis Ihr Euch zumindest in den Ansätzen wie  ein Ritter verhalten und die Tugenden des Ordens aufrecht erhalten  könnt. Geduld ist eine dieser Tugenden, Prinz“, erwiderte Sir Richard mahnend.
„Geduld ist etwas, das ich mir nicht leisten kann“, spie Thorvid durch  zusammengebissene Zähne empor. Er verstand das alles nicht. Er hatte bei  seiner Ankunft dem Orden dargelegt, was er sich hier erhoffte. Das die  Zeit drängte, und doch ließen sie ihn warten.
„Geduld ist etwas, das Ihr Euch leisten müsst!“, widersprach der Paladin  und setzte sich in Bewegung. Mit einer Handbewegung machte er deutlich,  dass Thorvid ihm folgen sollte.
Etwas überrascht von der Aufforderung setzte sich Thorvid in Bewegung,  aber nicht ohne direkt an Ulrik vorbeizugehen und diesem ein Mal gegen  den Oberarm zu klopfen. „Das setzen wir dann … später fort“, nuschelte  er Ulrik zu und ließ ihn einfach stehen. Schneller Schritte holte er den  Paladin ein.
„Ist das Eure Idee von Geduld?“, wollte Sir Richard amüsiert wissen, der anscheinend Thorvids Worte gehört hatte.
Thorvid sah zur Gruppe zurück und schluckte trocken. Er machte sich  keine Hoffnungen, gegen den Hünen bestehen zu können, aber irgendwie  hatte ihn die Auseinandersetzung auch etwas abgelenkt. Beinahe Spaß  gemacht. „Was das angeht, könnte ich jedwede Geduld aufbringen“, gab er  zu, da er keinerlei Interesse daran besaß, noch einmal die Faust im  Gesicht zu spüren.
„Immerhin ein Anfang“, gestand ihm der Paladin zu. „Jetzt müsst Ihr  dasselbe nur auch bei Eurer Schwester tun. Wie war ihr Name? Iouna?“
Thorvid nickte und atmete tief durch. „Ich weiß nur nicht, was sie gerade macht. Ob sie in Gefahr ist oder …“
„Das wissen nur die Götter. Selbst die Bewahrer wissen nicht alles“, schien ihn der Paladin beruhigen zu wollen.
„Ich hoffe das Beste …“, murmelte Thorvid, der nichts anderes tun konnte als das.
Der Paladin führte den jungen Mann die Treppen zur Außenmauer hoch, an  der er nach ein paar Schritten stehenblieb und auf das offene Meer  hinaussah, während sich die Sonne dem Horizont näherte. „Nun, das ist  nicht zu übersehen“, bestätigte Sir Richard. „Die Frage ist, ob Eure  Entscheidungen das Beste für sie waren … oder für Euch?“
Thorvid lachte kurz auf. „Für mich wohl kaum. Ich verrate meine Sippe,  indem ich hier bin. Sie halten ungefähr so viel von den Rittern, wie die  Ritter von den Argul. Ich habe meine Schwester so gut vorbereitet, wie  es mir möglich war … Ich …“ Thorvid folgte dem Blick des Bewahrers,  während dieser ihn aus dem Augenwinkel kurz ansah. „Ich tue das für  alle, aber sicherlich nicht für mich.“
Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Paladins.
„Da könnte ich es mir einfacher machen“, gestand Thorvid zuletzt, woraufhin Sir Richard ihn skeptisch musterte.
„Und warum tut Ihr das Gegenteil? Macht es Euch schwerer, und Ulrik zum  Feind, kaum dass Ihr hier seid?“, verlangte der Paladin zu wissen.
„Na ja … Ulrik und ich profitieren doch beide von solch einer  Auseinandersetzung. Oder nicht?“, stellte Thorvid klar, was den Blick  des Paladins an Skepsis gewinnen ließ. „Ich beweise, dass ich selbst  nach harten Schlägen noch stehe und grinse, und Ulrik, dass er  vermutlich das kräftigste Kerlchen ist, das hier herumläuft. Der nächste  Rekrut wird sich überlegen, ihn herauszufordern und ein Vollstrecker  wird vielleicht auf ihn aufmerksam.“
„Wir werden sehen, ob Ihr davon profitiert“, meinte Sir Richard grinsend.
Dem Prinzen war klar, dass sein Anblick in den Reihen der Ritter ein  seltener war. Um sich anzupassen, hatte er bereits seinen brünetten Zopf  in seiner Heimat gelassen. Das Haar, das ihm einst bis zur Hüfte  gereicht hatte, hatte er mit einer Klinge gekürzt. Er wollte nicht  sofort als Nordmann entlarvt werden. Seither schmückte ein kurzes  Haupthaar seinen Kopf und geradezu kahle Seiten. „Ich muss schneller  lernen als andere. Das ist meine Anforderung an mich selbst, aber ich  habe das Gefühl, dass ich erst … begutachtet werde. Vor allem, da ich  aus Delyveih stamme“, versuchte Thorvid, sich zu erklären.
„Jeder wird hier begutachtet. Es ist nur selten, einen Nordmann auf  Calera zu sehen, daher …“ Sir Richard zuckte mit seinen Schultern und  wandte sich ihm zu. „Es macht keinen Unterschied, dass Ihr ein Prinz  seid, also wird es auch keinen machen, in welchem Herzogtum Ihr geboren  wurdet. Und wenn Ihr lernen wollt …“
Auch Thorvid sah den älteren Herren an. „Ich wurde wie ein Prinz  erzogen, fühlte mich aber nie wie einer. Eigentlich … habe ich mit den  Rittern mehr gemeinsam als mit meinen Geschwistern, deswegen bin ich  hier.“
„Vielleicht mit den Rittern, wie sie Euch im Palast von Yveih  nähergebracht wurden, aber von einem Bewahrer seid Ihr weit entfernt.“
Wieder musste Thorvid lachen. Wahrscheinlich war die Darstellung der  Ritter in Delyveih tatsächlich eine andere, als es den Tatsachen  entsprach, wenn auch nur unwesentlich. Er schaute auf die Gruppe  Rekruten hinunter, die immer noch mit Ulrik an der Stelle standen, an  denen sich beide geprügelt hatten.
„Das weiß ich. Ich weiß auch nicht, ob die Bewahrer mein Weg sein  werden. Ich war nie gut darin … zu reden. Ich habe bereits mehr Menschen  auf dem Gewissen, als die meisten anderen Rekruten hier. Ich weiß  nicht, ob das die meisten Anwärter dieses Amtes von sich behaupten  können.“
Sir Richard drehte sich zu Thorvid um und begutachtete ihn. „Nun … wie  Ihr vorhin eindrucksvoll bewiesen habt, werdet Ihr kein Vollstrecker.“  Er grinste verschlagen. „Als Beschützer könnte ich mir Euch vorstellen,  aber … nein. Zu reden ist nicht das Wichtigste als Bewahrer.“
Das war Thorvid neu. Er dachte die ganze Zeit, diese Art Ritter würde  nichts anderes tun. Wieder etwas, das er anscheinend lernen musste.  Nichts war gänzlich das eine oder das andere. Nicht alles nur schwarz  oder weiß …

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